Selbstbestimmt leben

Seit dem letzten Post, indem ich die Ereignisse mit meiner Mutter geschildert hab, sind mehr als zwei Monate vergangen, in denen ich hier nichts geschrieben habe. Das hatte natürlich seinen Grund.

Meine Mutter ist inzwischen ja leider gestorben (in der Nacht vom 1. auf den 2. März). Das Herz wurde zusehends schwächer, was natürlich bedeutete doch noch einmal die Entscheidung zu überdenken, ob tatsächlich (wie von ihr gewünscht und schon vor längerer Zeit besprochen) in einem solchen Fall auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet werden sollte. Wenn es konkret wird, merkt man aber sehr unangenehm, dass es absolut nicht leicht ist zu entscheiden, ob der vorliegende Fall „ein solcher“ ist oder eher nicht.

Das liegt nicht daran, weil wir die wichtigen Punkte nicht angesprochen hätten damals. Es ist einfach so, dass mir sehr deutlich klar geworden ist, dass es eine Gradwanderung ist einzuschätzen, ob lebensverlängernde Maßnahmen im wesentlichen die vorige Lebensqualität wenigstens annähernd wieder herstellen könnten – oder ob sie vielleicht doch ungewollt dazu führen, dass ein Zustand zementiert wird, der genau das wäre, dem sich der betroffene Mensch ausdrücklich entziehen wollte weil subjektiv als nicht mehr wünschenswerte Rest-Lebensqualität erachtet.

Ich bin kein religöser Mensch und habe deshalb keine in diese Richtung gehenden Gewissensbisse. Ich habe aber sehr deutlich gemerkt, dass plötzlich eine enorme Last da ist, auf keinen Fall die falsche Entscheidung zu treffen; und entscheiden muss man manchmal sehr schnell. Es ist selbstverständlich, dass ich mich dieser Zwickmühle nicht einfach dadurch entziehen konnte, indem ich mir gesagt hätte: Sie hatte eh nicht mehr viel Lebenswille (was stimmte), also lieber generell nichts mehr machen. Das ist schon deshalb keine praktikable Möglichkeit, weil ich schließlich den unnötigen Verlust eines mir nahe stehenden Menschen vermeiden wollte.

Als Nicht-Mediziner kann man sicher nur sehr unzulänglich einschätzen, wie sich ein stark angeschlagener Gesundheitszustand noch entwickeln kann. Ich habe deshalb immer wieder das Gespräch mit Ärzten und Pflegekräften gesucht. Ein bisschen was hat das gebracht, aber die Entscheidung abnehmen kann sowas nicht. Ich will mal so sagen: Man wird etwas schlauer nach solchen Gesprächen, aber mit dem Effekt, dass sich die wesentliche Frage lediglich auf eine etwas höhere Ebene verschiebt. Das eigentliche Entscheidungsproblem bleibt bestehen.

Gestorben ist meine Mutter dann erstaunlich schnell, nachdem es erst so ausgesehen hatte, dass sich das Herz von alleine wieder erholen würde. Sie war etwas länger als eine Woche lang noch daheim gewesen in zwar geschwächtem körperlichen Zustand, aber geistig wieder auf der Höhe. Dann kam nachts das nächste Herzproblem. Sie wurde früh morgens bewusstlos auf dem Boden liegend gefunden, stark unterkühlt. Auf der Intensivstation kam sie dann im Lauf des Tages wieder zu sich und alles hatte sich wieder stabilisiert. In der folgenden Nacht hatte dann das Herz immer längere und häufigere Aussetzer. Als ich um halb zwei in die Klinik kam, war sie schon nicht mehr wach. Nach etwas mehr als einer halben Stunde war es dann sehr unspektakulär zu Ende.

Wie ein Akku, der vollends entladen wird, kam mir in den Sinn. In dem Moment ist das dann natürlich schon ein enorm schwieriges Gefühl, wenn man das aus nächster Nähe mit erlebt. Natürlich ist Trauer dabei im Vordergrund. Aber das ist es nicht allein.

Es waren erst einige Tage zeitlicher Abstand nötig, bis ich mich noch mal intensiv mit der Frage befassen konnte, wie ich das Ganze denn nun einschätze. Es gab keine Zweifel für mich. Für meine Mutter war ein selbstbestimmtes Leben immer ein sehr hohes Gut. Sie hat sich schon schwer getan damit, die unvermeidlichen altersbedingten rein körperlichen Einschränkungen zu akzeptieren. Nur noch im Rollstuhl sitzen zu können, das hätte bei ihr auch Depression bedeutet. Da aber sich auch schon abzuzeichnen begann, dass auch geistige Einschränkungen nicht mehr fern waren, wäre es ein klarer Missbrauch ihres Vertrauens in mich gewesen, wenn ich den verantwortungsmäßig schweren Schritt des konsequenten Verzichts auf lebensverlängernde Maßnahmen vermieden hätte.

Ich bin froh, dass es keine langwierige Leidensgeschichte gab.

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