Zwangsbeglückung

Mein 5 Jahre altes Handy hat den Geist aufgegeben, ziemlich plötzlich. Finanziell zu verschmerzen, weil der Akku eh schon deutlich am schwächeln war und mir schon immer ein recht einfaches Smartphone genügt. Viel ärgerlicher finde ich die unvermeidliche Prozedur, die dann kommt. 

Gemeint sind die vielen voreingestellten pseudo-intelligenten Funktionen, die ich wirklich nicht haben möchte: Ich benutze kein „Fratzenbuch“, kein „Ge(t)witter“, kein Instagram, kein WhatsApp und den ganzen Kram dieser Art. Warum? Erstens weil ich es wirklich nicht brauche, zweitens weil ich absolut keine Lust habe ständig überall sichtbar zu sein und drittens weil es andere Kommunikationswege gibt, die mir viel besser liegen: bevorzugt Email, wenn’s sein muss ab und zu SMS, und natürlich das ganz banale Telefon für alles, wofür die Tipperei zu umständlich ist. Und dort, wo etwas anderes besser passt, wähle ich das dann ganz gezielt aus (z.B. Videokonferenz mit meinen Klienten).

Obwohl ich auch beim jetzigen Gerät beim selben Hersteller geblieben bin, ist leider doch wieder viel ganz anders angeordnet und mir wichtige Funktionen haben ohne irgendwelchen nachvollziehbaren Sinn ihren Platz gewechselt oder sind ganz verschwunden. Okay, ich werd mich natürlich dran gewöhnen. Wozu aber muss standardmäßig so viel voreingestellt sein, das man nur mühsam und umständlich ALLES EINZELN abstellen kann? Es wäre so simpel einfach an zentraler Stelle eine Schaltmöglichkeit anzubieten:

  • Konfiguration mit voreingestellten Automatik-Funktionen
  • Basis-Konfiguration ohne jegliche Automatik
  • meine individuell abspeicherbare benutzerdefinierte Konfiguration

Ganz offensichtlich ist das aber wohl nicht gewünscht. Inzwischen hab ich auch so das meiste so weit eingerichtet, wie ich es haben will, ohne dauernd mit irgendwelchen tollen „Nachrichten“ zugemüllt zu werden: Nein, mich interessiert wirklich nicht die ach so wichtige Warnung, dass heute Nacht durch den Sturm Klaus in Norddeutschland 500 km entfernt ein Baum umfallen könnte! – Ich hab das nirgends eingestellt. Es war voreingestellt. Und um das Handy von dem ganzen Quatsch zu bereinigen (nicht zu vergessen alle natürlich auch voreingestellten Auto-Updates!), das hat mich insgesamt mehrere Stunden Zeit gekostet, weil sich dann doch immer noch an gut versteckter Stelle noch was Unerwünschtes findet.

Mal ganz ehrlich: Wenn es die Möglichkeit gäbe das gleiche Handy ohne diesen ganzen voreingestellten Mist zu bekommen, würde ich glatt 50 € mehr bezahlen!

Blick übern Tellerrand hinaus

Jetzt hab ich meinen Frust ausgiebig übers neu gekaufte Handy ausgelassen. Tatsächlich ist aber nur ein Beispiel von vielen. Lang ist’s her, aber es gab mal eine Zeit, in der jeder Fotograf eine x-beliebige Kamera in die Hand nehmen und Bilder machen konnte, ohne vorher erst eine Bedienungsanleitung studieren zu müssen. Ich fotografiere mit Fuji-Kameras. Dort hält sich die „Zwangsbeglückung“ mit diversen tollen Funktionen, die ich nicht nutze, zum Glück noch einigermaßen in Grenzen. Es ist mir aber trotzdem schon mehrmals passiert, dass ich unbemerkt irgendwo dran gekommen bin und plötzlich in einem Betriebsmodus war, den ich nicht brauchen konnte, aus dem ich aber nicht mehr raus kam. Ich würde mir sehnlichst wünschen, die Kamera hätte einen verriegelbaren Schalter, mit dem man alles feststellen könnte. Technisch wäre das ja sicher ohne weiteres machbar.

Oder nehmen wir mal meine geliebten Oldtimer-Autos. Ich find’s wunderschön, wie man da als Fahrer noch das Sagen und Tun hat! Es gibt noch keinerlei Bevormundung und Ermahnung. Nicht angeschnallt, und irgendein Geplärre oder Getröte nervt so lang, bis der Fahrer kapituliert? Natürlich sind Sicherheitsgurte sinnvoll, aber doch nicht bitte immer, wenn ich z.B. das Auto mal paar Meter umparken oder rangieren will!

Ich bin nur sehr selten mit einem modernen Auto unterwegs, staune aber jedes Mal, mit was für einer Flut an Informationen man heute überschüttet wird. Dazu eine kleine Anekdote: Mein Vater hat „beim Daimler gschafft“ und hatte natürlich einen Jahreswagen. Ein neues Modell, das erstmals mehr elektronische Features hatte. Gerade hatte er den neuen Jahreswagen abgeholt und war auf dem Heimweg. An der roten Ampel ging plötzlich wildes Gepiepse los. Also rechts rangefahren und ratlos die Knöpfe auf dem Lenkrad gedrückt. Irgendwann war Ruhe. Also weiter gefahren – und es ging wieder los. Also postwendend in die Werkstatt. Sucherei ging los. Nix gefunden. Dann wieder das Gepiepse! Was war es? Mein Vater hatte ein neues Handy mit anderem Klingelton, das er in der Jacke auf dem Beifahrersitz liegen hatte, und meine Mutter wollte wissen, wann er denn endlich zum Essen kommt, es wird kalt…

Zu alt?

Bin ich inzwischen zu alt für die Errungenschaft unserer digitalen Welt? So pauschal würde ich das nicht sehen. Es trifft sicher zu, dass ich mich heute längst nicht mehr für jede Neuerung interessiere, die ich vor 20 Jahren noch begierig studiert hätte. Es gibt einfach zu viel, mit dem ich nix anfangen kann. Manchmal dauert’s ein bissle, bis ich drauf aufmerksam werde, aber wenn es für mich einen echten Nutzen bringt, dann finde ich technischen Fortschritt schon gut. Ein solches Beispiel ist die Gesichtserkennung in der Fotografie. Ich hab das erst für ein albernes Features für Selfies gehalten, bis ich es doch mal eingeschaltet hab und ganz überrascht war, um wieviel treffsicherer der Autofokus bei Porträts mit offener Blende wird.

Ich meine, dass Automatikfunktionen durchaus sehr nützlich sein können – aber nur dann, wenn ich selber die Entscheidung behalte, was genau ich nutzen will und für welchen Zweck. Genau diese Entscheidung wird aber leider immer weiter in den Hintergrund gedrückt: Du dummer User hast doch gar keine Ahnung, was gut für dich ist! Deshalb wird das Gerät eben standardmäßig mit einem Berg an entmündigenden Voreinstellungen vollgepackt, basta!

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